Sonntag, der 13. oder der 1. Tag nach der WM

aus dem Reisetagebuch von Dieter Lippelt
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Der Wecker reißt uns aus dem Schlaf ...
Es ist 6.00 Uhr, keine Zeit, um sich noch einmal auf die andere Seite zu legen, denn um 6.45 Uhr müssen die Koffer abholbereit vor der Zimmertür stehen.
Etwas verspätet setzen sich gegen 8.30 Uhr unsere beiden Reisebusse in Richtung Peking in Bewegung. Mit einem für uns schon längst vertrauten „ ni hao“ werden wir von dem chinesischen Reiseleiter begrüßt. Uns wird der Fahrer vorgestellt, der ob seiner Fahrkünste mit „Meister“ angeredet wird. Noch einmal erfahren wir, dass Hohhot mit seinen 2 bis 3 Millionen Einwohnern nur eine kleine Großstadt im Reich der Mitte ist und dass hier 36 ethnische Gruppen auf über 17 000 Quadratkilometern wohnen.
Es dauert lange, ehe wir diese Stadt mit ihren immer freundlichen, hilfsbereiten und sich für „Langnasen“ interessierenden Chinesen hinter uns lassen.
„Wir werden in Badaling, unserem Ziel an der Großen Mauer, in ca. 11 ½ Stunden ankommen“, sagt uns unser Reiseführer durch das Mikrofon. Es klingt immer etwas aufgeregt, wenn Chinesen sprechen. Ich kann kaum glauben, dass unser durchaus moderne, von einem „Meister“ gesteuerte Bus 11 ½ Stunden für ca. 550 km benötigt. Ich notiere mir ausdrücklich diese Aussage.
Wir sind auf der Autobahn. Eine wenig einladende braungelbe Löss- und Lehmlandschaft empfängt uns. Auf der rechten Seite barrancoähnliche Schluchten, die die ständig erodierende Kraft des Wassers während der Regenzeit geformt hat, links von uns karge, landwirtschaftlich genutzte Felder, auf denen man hin und wieder eine Person in gebückter Haltung ihre Feldarbeit verrichten sieht.
Wir überholen lange LKW, deren Fracht jeweils mit einer Plane abgedeckt ist. Aufgrund der Kohle, die auf der Fahrbahn liegt, ist anzunehmen, dass vorwiegend dieser Brennstoff zu den am Rande der Städte liegenden Kohlekraftwerken transportiert wird. Der Verkehr wird dichter. Auch der Pannenstreifen wird zum Überholen genutzt. Unser „Meister“ überholt mal links, mal rechts und hupt jedes Mal, wenn er zum Überholen ansetzt.
Stau! Da sich die Bustüren öffnen und uns quasi zum Aussteigen einladen, begeben wir uns auf die Autobahn. Erst vorsichtig, dann mutiger werdend, bis wir durch die Länge der LKW-Karawane begriffen haben, dass es sich um einen längeren Aufenthalt handeln muss. Einige ganz Mutige – vielleicht war auch die Not zu groß – suchen in der Weite der Landschaft ein „Plätzchen der Harmonie“, wie die Chinesen die Toilette wohlklingend umschreiben. Dagegen hocken sich chinesische LKW-Fahrer ganz ungeniert in Sichtweite hin.
Wir fragen unseren Reisebegleiter nach der Ursache dieses Staus. Er zuckt mit den Achseln; so sind wir auf eigene Hypothesen angewiesen und diesbezüglich erweisen sich plötzlich viele als außerordentlich fachkundig. Na ja, wir sind eben das Land der Autobahnen.
Endlich, nach ca. zwei Stunden, wird die Fahrt fortgesetzt. Vorbei geht es an aus Lehm gebauten Häusern, deren Bauzustand nicht zu entnehmen ist, ob sie bewohnt oder verlassen worden sind. Ich nehme meine Spiegelreflexkamera und benutze das Tele, um in die Dörfer hineinzuschauen. Straßenbeleuchtungen sind ebenso wenig zu erkennen wie befestigte Straßendecken. Die Straßen und Wege sind lehmig, staubig und verlieren sich in dem Grau der Landschaft. Hier ist die Zeit stehen geblieben. Welch ein Gegensatz zur Autobahn! Sie führt in die Zukunft, bedeutet Aufbruch und stellt durch die Fahrzeuge mit ihrer hohen PS-Zahl und durch die an Luxus gewöhnten Reisenden eine Welt für sich dar. Auch in den Himmel ragende Brückenpfeiler und Tankstellenskelette sind untrügliche zukunftsweisende Zeichen wirtschaftlicher Expansion.
Das Brennen von Ziegelsteinen hat in der Landschaft immense Löcher und Krater gerissen, die den formenden Kräften des Wassers und Windes ausgesetzt sind. Umweltschutz und Sauberkeit scheinen im ländlichen Raum kaum Einzug gehalten zu haben.
Als ich junge Baumpflanzungen sehe, die der Rekultivierung des Landes dienen, muss ich meine Meinung geringfügig revidieren.
Wir halten an der zweiten Mautstation. Es sind noch 274 Kilometer zu fahren. Aber wohin? Wahrscheinlich Peking; leider können wir die chinesischen Zeichen nicht lesen. Auf der entgegen gesetzten, fast leeren Fahrbahn überholt uns die Polizei, Zeichen eines Staus. Tatsächlich! Wir steigen aus, genießen die frische Luft und schauen uns beim Bummel durch die engen Fahrzeugreihen einmal die Reifen der LKW an. Erschreckend! Die Profiltiefe ist derartig gering, dass sie bei uns keinem Reifencheck standhalten würde.
In der Ferne setzen sich Wagen in Bewegung. Wir beeilen uns einzusteigen, doch der nächste Stau erwartet uns schon nach kurzer Zeit.
„Ruf doch mal ffh an“, flachst ein Hesse,“und gib die Staumeldung durch. Wir sind auf der Autobahn nach Peking“.
Während unserer Weiterfahrt tauchen die ersten Originaltürme der Großen Mauer auf. Sie sind ausschließlich aus Lehm gebaut und ca. 2500 Jahre alt. Eigentlich sollten wir heute die Mauer bei Badaling erklimmen, jedoch ist unschwer zu erraten, dass die Besichtigung auf den nächsten Tag verschoben werden muss.
Noch 1 km bis Huaian, einem der wenigen Rastplätze. Doch plötzlich stoppt unser Bus mitten auf der Autobahn. Die Bremsen sind heiß gelaufen und werden mit dem mitgeführten Mineralwasser gekühlt. Jedes Mal wenn eine der 550 ml großen Flaschen geleert wird, steigt zischend heller Dampf an den vorderen Scheiben empor. Um 16.49 Uhr wird schließlich die nahe stehende Raststätte erreicht, wo in einer dazu gehörenden Werkstatt schnell und mit einfachem Werkzeug die Reparatur durchgeführt wird. In einem „Supermarkt“ kaufen wir ein, denn unser Lunchpaket gehört schon lange der kulinarischen Vergangenheit an. Um 17.35 Uhr wollen wir den Rastplatz verlassen, jedoch dauert es weitere 8 Minuten, ehe wir uns in die Wagenkolonne einreihen können. Erstaunlich die Gelassenheit der Fahrer! Offensichtlich gehört der Stau zu deren Alltag. Wir fahren im Schritttempo und halten. Mopedfahrer und Fußgänger kommen uns auf unserer Seite entgegen, um uns ihre Waren anzubieten. Hier scheinen Staus schon vorprogrammiert zu sein, denn die fliegenden Händler sind gewiss nicht zufällig hier vorbeigekommen. Es wird langsam dunkel und das Schreiben wird für mich aufgrund des Fehlens einer funktionierenden Leselampe schwierig. Der ca. 20 km vor uns fahrende Gepäckbus meldet einen 50 km langen Stau, den er durch die Benutzung einer Landstraße umgehen will. So verlassen auch wir nach geraumer Zeit die Autobahn. Die windungsreiche und unebene Straße ist so gut wie leer. In verschiedenen Dialekten blüht der Flachs, ein Ventil, um sich dem inzwischen angestauten Unmut Luft zu machen. Man spöttelt über die Straßen. Begriffe wie Pfützen und Schlaglöcher werden der Beschreibung der Straßenverhältnisse nicht gerecht. Es sind lange, breite mit Wasser gefüllte Vertiefungen, als hätte man der Straße Material entnommen und an anderer Stelle wieder aufgeschüttet. Halt! Keine Durchfahrt für Fahrzeuge mit einer Höhe von über 3,1 m. Durch den auf der Fahrbahn angehäuften Sand beträgt die Höhe zwischen der Straße und dem oberen Balken des Tores deutlich weniger als 3,1 m. Der Fahrer steigt aus, sucht mit einer Taschenlampe nach einer Möglichkeit, das Tor seitlich zu umfahren, während wir die Gelegenheit nutzen, um „harmonisieren“ zu können. Trotz starker Erschütterungen am Chassis gelingt es, die Straße wieder unbeschädigt zu erreichen. Offensichtlich traut der Fahrer seinem Navi nicht, denn ein Taxifahrer wird in dem nächsten von Lampions beleuchteten Ort engagiert, um uns den Weg zur Autobahn zu weisen.
Anfangs glaubten einige von uns, sich das Fußballspiel unserer Nationalmannschaft um 2.30 Uhr chinesischer Zeit im Fernsehen anschauen zu können. Später trösteten sie sich mit der zweiten Halbzeit. Aber in der Zwischenzeit ist jedem klar geworden, dass wir erst nach Ende des Spiels ankommen würden.
Der Fahrer, für den es wohl keine Lenkzeitvorschrift gibt, freut sich über die leerer gewordene Autobahn. Geschickt und mit einer Genauigkeit von wenigen Zentimetern lenkt unser „Meister“ den Bus an auf der Fahrbahn abgestellten unbeleuchteten Transportern vorbei, bis wir schließlich am Morgen unser Hotel erreichen. Um 5.25 Uhr betrete ich mein Zimmer, müde, gesund und froh, dass der Abfahrtstag nicht Freitag der 13. war.

Anm. vom 21.6.
Eine insgesamt faszinierende, facettenreiche Reise geht zu Ende. Pekings Tempelanlagen, die Terrakotta-Armee von Xi’an, Guilins Kegelberge sowie die Skyline und das nächtliche Lichtermeer von Shanghai haben unauslöschbare Eindrücke hinterlassen.
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